Unterschieden wird der kompensierte vom dekompensierten Tinnitus. Ersterer kann in der Regel so in das Leben integriert werden, dass der Leidensdruck nicht klinisch relevant ist. Beim dekompensierten Tinnitus haben Betroffene dagegen mit einer hohen psychischen Belastung zu kämpfen.
Leiden Menschen unter einem dekompensierten Tinnitus, kommt es bei der Mehrzahl zu psychischen und sozialen Begleitsymptomen. Patient:innen mit dekompensiertem Tinnitus berichteten in einer Studie von Schaaf und Kolleg:innen (2014) u.a. vermehrt von:
- Stress und Anspannung
- Arbeitsüberlastung
- Besorgnis
- sozialer Isolation
Sie unterschieden sich damit bedeutend von Personen im gesunden Bereich. Zahlreiche Untersuchungen zeigen außerdem, dass Personen, die von einem dekompensierten Tinnitus betroffen sind, deutlich häufiger an depressiven Symptomatiken und Ängsten leiden als Personen mit einem kompensierten Tinnitus. Tinnitus ist also mehr als nur ein Klingeln im Ohr und wird damit aus gutem Grund sowohl bei der Entstehung, als auch bei der Behandlung multimodal betrachtet.
Wann empfinden wir Stress?
Stress ist zuerst einmal eine normale und wichtige Anpassungsreaktion. Körper und Psyche werden aktiviert, um eine für uns anspruchsvolle Situation zu bewerkstelligen. Dabei kommt es darauf an, wie die Situation bewertet wird und wie wir unsere eigenen Bewältigungsmöglichkeiten einschätzen. Diese zwei Faktoren sind individuell sehr unterschiedlich. Situationen, in denen die Einen ganz locker bleiben, sorgen bei Anderen für enorme Anspannung. Ebenso ist es bei Tinnitus als potenziell stressauslösendem Reiz.
Tinnitus und Stressbewältigung
Dem Tinnitus ist es egal, ob gleich Schlafenszeit ist oder ob ein Teammeeting oder Kinobesuch ansteht. Selbst wenn die Ohrgeräusche mal weniger laut und dominant sind, ist er bei den meisten Betroffenen allzeit präsent:
„Das Pfeifen wird mich heute wieder den Schlaf kosten.“
„Ich verstehe sowieso nichts, dann bleibe ich lieber zu Hause.“
Solche und ähnliche Gedanken treiben viele Betroffene von Tinnitus um. Wird ein Reiz, in dem Falle das Ohrgeräusch, negativ bewertet und bekommt damit eine emotionale Komponente, wird im Gehirn das limbische System (das „Emotionszentrum“) aktiv. Als potenzielle Bedrohung wird nun vermehrt Aufmerksamkeit auf den Tinnitus gelenkt, was Körper und Psyche zusätzlich in Stress versetzt.
Der Tinnitus wird als noch dominanter wahrgenommen, was die negative Bewertung weiter anfeuert. Es bildet sich ein Kreislauf aus Tinnitus, negativer Bewertung, dysfunktionaler Verarbeitung und Stress, der die Beschwerden verstärkt und aufrechterhält.
Dass Tinnitus Stress zur Folge hat, ist bei Betrachtung der zahlreichen psychischen Begleiterscheinungen vermutlich gut nachvollziehbar. Ob Stress auch Tinnitus auslösen kann, ist weniger gut erforscht. Einige Erklärungsansätze gehen beispielsweise davon aus, dass das aufgrund von Stress vorherrschende Hormonungleichgewicht das Innenohr geräusch- und schmerzempfindlicher macht, was die Entstehung von Tinnitus begünstigen könne.
In den gängigsten Modellen zur Entstehung von Tinnitus findet sich Stress jedoch meistens als Folge und verstärkender Faktor wieder.
Stress wird sich nie ganz vermeiden lassen. Doch mit den richtigen Strategien und dem nötigen Werkzeug können Sie lernen, wieder selbst den Ton anzugeben. Vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes.