Die Ursache sind unverarbeitete schwere seelische Verletzungen, die in unterschiedlicher Weise und Stärke an die Nachkommen weitergegeben werden.
Das Schweigen über schreckliche seelische Erlebnisse ist meist ein Ausdruck eines unverarbeiteten Traumas. Und gerade darin liegt die Gefahr, dass sozusagen die psychische Wunde unbewusst an die nächste Generation weitergegeben wird und dort wiederum seelische Probleme verursacht.
In der Bindungsforschung geht man davon aus, dass traumatisierte Eltern im Bindungsverhalten gegenüber ihren Kindern feine Unterschiede zeigen, die zu Unsicherheit und Ängsten bei den Kindern führen können, ohne dass die Eltern das bewusst steuern können oder gar an sich bemerken.
Die Epigenetik
In der Genforschung gibt es den noch recht neuen Begriff der „Epigenetik“. Damit ist gemeint, dass sich durch Stress bzw. äußere Einflüsse unsere Genaktivität verändern kann und somit auch über die Genfunktion Informationen auf die Nachkommen übertragen werden können.
So können Traumata einen epigenetischen Effekt haben. Dabei verändert sich nicht die Erbgutsequenz, sondern andere Faktoren rund um die DNA. In den Teilen des Gehirns, die Stress und Angst regulieren kommt es zu deutlichen Veränderungen und das Verhalten ändert sich entsprechend. Da die Veränderungen auf molekularer Ebene auch in den Keimzellen stattfinden, zeigt die nächste Generation eine ähnliche Reaktion.
Spurensuche
Nicht jedes Trauma wird weitergegeben. Aber gerade in Generationen, die Krieg, Sklaverei, Missbrauch, Folter oder z.B. den Holocaust erlebt haben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es zu einer Trauma-Übertragung kommt. Manchmal ist eine „Spurensuche in der Vergangenheit“ zwar sehr schmerzhaft, kann aber auch die Lösung eines Problems bedeuten.
Diagnose
Zu jedem Anfang einer Gesprächstherapie gehört eine ausführliche sozial-biografische Anamnese. Das bedeutet in welcher Familienstruktur ist ein:e Patient:in aufgewachsen? Wie war die Atmosphäre in der Familie, wer hat sich um wen gekümmert bis hin zur aktuellen Lebenssituation. Meist fallen dann in der Familiengeschichte schon tragische Geschichten oder seltsame Lücken auf, die einen Hinweis auf ein traumatisches Geschehen geben können.
Symptome
Die Symptome können sehr unspezifisch sein. Häufig zeigen sich Ängste, Schuldgefühle, depressive Symptome, erhöhte Stressanfälligkeit oder ein erhöhtes Kontrollbedürfnis. Es können aber durchaus auch wiederkehrende körperliche Probleme vorkommen.
Weitere psychische Symptome können sein
- Schamgefühle
- Unsicherheiten & geringes Selbstbewusstsein
- ein Gefühl der Verlorenheit
- Wutausbrüche
- Albträume
- Selbstfremdheit
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Gedächtnisschwierigkeiten
Es können aber durchaus auch wiederkehrende körperliche Probleme vorkommen, wie z.B.
- Chronische Schmerzen ohne physische Ursachen, wie Migräne und Rückenschmerzen
- Lähmungserscheinungen ohne physische Ursachen
- Krampfanfälle ohne physische Ursachen
Im Heilungsprozess von Traumata liegt eine große Chance ganze Generationen zu entlasten und von alten Belastungen und Leid zu befreien. Der Aufarbeitungsprozess ist nicht einfach und bedeutet für die Patient:innen durchaus mühevolle Arbeit und seelischen Schmerz, der auch die Elterngeneration noch einmal betreffen kann. Aber diese Aufarbeitung gibt gleichzeitig die Möglichkeit der Heilung.
Therapeutische Ansätze & Herausforderungen
Eine spezifische Therapie für transgenerationale Traumatisierungen gibt es leider aktuell nicht. Allerdings gibt es inzwischen viele Therapeut:innen, die in ihrer Traumatherapie auch das transgenerationale Trauma behandeln und die Methodik empathisch auf die jeweiligen Betroffenen anpassen. Die Traumatherapie hat diverse Ansätze wie u. a. die Narrative Expositionstherapie oder EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), die in einer Therapie genutzt werden können.
Die Aufarbeitung der Familiengeschichte stellt dabei natürlich eine größere Herausforderung dar, als wenn es „nur“ um die eigene Biografie geht. Das Befragen vom beteiligten Familienmitgliedern und das Zusammentragen von relevanten Informationen bedeutet mühevolle und zeitintensive Arbeit. Hier stoßen Patient:innen auch oft auf eine Mauer des Schweigens, denn Fragen wecken alte Erinnerungen, die mit Scham, Schmerz und Schuldgefühlen verbunden sind. Es erfordert viel Feingefühl mit der Familiengeschichte so umzugehen, dass es nicht zu einer Retraumatisierung kommt, sondern zu einer schrittweisen behutsamen Aufarbeitung. Gegebenenfalls lässt sich manche relevante Information aufgrund von bereits verstorbenen Familienmitgliedern gar nicht mehr erheben.
Des Öfteren sind die Ereignisse, die zur Traumatisierung geführt haben so unaussprechlich schrecklich, dass es für die Betroffenen eine seelische Überforderung sein kann „darin herumzuwühlen“. Hier hilft es dann eher, Strategien für einen Umgang mit den eigenen aktuellen Problemen zu finden und nicht alle Generationen einzubeziehen. Ein solches Vorgehen würde in der Therapie, gemeinsam zwischen Patient:in und Therapeut:innen besprochen werden.
Es gibt Forschungsergebnisse, die Hinweise dafür liefern, dass nach einer Traumatisierung verschiedene Faktoren hilfreich sind. Beispielsweise ein sicherer, geschützter Rahmen, in dem einfühlsam das „Unaussprechliche“ in Worte gefasst und eingeordnet werden kann. Die Stärkung der Resilienz, der Ressourcen und der Würde der Betroffenen sind wichtig. Außerdem unterstützen hilfreiche Aktivitäten, die das Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein bekämpfen, Betroffene aus dem Opfergefühl herauszukommen.
Die Aufarbeitung eines transgenerationalen Traumas kann ein schwieriger und schmerzhafter, aber auch bereichernder Prozess sein. Bereits eine Diagnose kann für viele entlastend sein: die bisher scheinbar unerklärlichen Symptome und Gefühle haben plötzlich eine Ursache. Eine Therapie kann dabei unterstützen, das vererbte Trauma aufzuarbeiten und zu verhindern, dass dieses an die eigenen Nachkommen weitergereicht wird.