Im Interview mit DIE ZEIT (44/2022) spricht Dr. Stephanie Grabhorn, ärztliche Direktorin der Blomenburg Privatklinik und des Fachzentrums Falkenried für Stressmedizin in Hamburg-Eppendorf, über die besondere Leistungsethik der Hamburger, die psychischen Auswirkungen und die Erfahrungen aus der Tagesklinik in Hamburg-Eppendorf.
Die Pandemie, die Energiepreise, die drohende Rezession: All das ist nicht gut für die Psyche. Gerade jetzt zerbrechen viele Menschen am Leistungsdruck, sagt Stephanie Grabhorn, Fachärztin für Psychotherapie und Psychiatrie – besonders in Hamburg
DIE ZEIT:
Laut einer Hochrechnung der Krankenkasse Barmer gibt es in keinem anderen Bundesland so viele ärztlich diagnostizierte Depressionen wie in Hamburg: 236.000 Menschen leiden hier darunter. Woran liegt das? Doch nicht am Wetter, oder?
Stephanie Grabhorn:
Das Wetter könnte schon ein Faktor sein; es gibt ja durchaus saisonale Depressionen. Aber das ist sicher nicht der Hauptgrund. Ich vermute eher, es hängt mit der besonderen Leistungsethik zusammen, die ich in Hamburg bemerke. Vielleicht gibt es hier einfach besonders viele High Performer, die eines Tages zusammenbrechen, weil sie nicht mehr können. Das erlebe ich jedenfalls in meiner Praxis.
ZEIT:
Sie leiten das Fachzentrum Falkenried für Stressmedizin und Psychotherapie, eine private Tagesklinik und Ambulanz in Eppendorf – also einer Gegend, in der nicht gerade die finanziell schwächsten Hamburger leben.
Grabhorn:
Früher dachte ich, in einer Privatklinik gehe es entspannter zu als in meinen bisherigen beruflichen Stationen – ich habe auch mit Obdachlosen und in der geschlossenen Psychiatrie gearbeitet. Ich dachte, hier hätten die Menschen höchstens mal eine leichte Depression. Wir erleben aber das genaue Gegenteil: schwer traumatisierte Menschen, die zu Wohlstand und Erfolg gekommen sind, weil sie ihr Leben lang gegen ihre schwierige Vorgeschichte angearbeitet haben. Sie kommen vielleicht aus einem dysfunktionalen Elternhaus, vielleicht war der Vater oder die Mutter psychisch belastet, vielleicht gab es Gewalt, Missbrauchserfahrungen, Traumata. Alles Dinge, über die man nicht spricht, weil sie schambehaftet sind. Immer wurde versucht, das zu kompensieren, mit besonders viel Leistung, mit besonders viel Anstrengung, und meist mit Erfolg. Wenn dann aber etwas im Leben schiefläuft, brechen sie zusammen – weil die dünne Schicht weg ist, die die Vergangenheit übertüncht hat.
ZEIT:
Welche Fälle begegnen Ihnen?
Grabhorn:
Zum Beispiel: eine Führungskraft aus einem großen Unternehmen, ein Leistungsträger. Er war um fünf Uhr aufgestanden, um laufen zu gehen, dann war die Kaffeemaschine kaputt – und er brach weinend zusammen, legte sich ins Bett und konnte nicht mehr. Als er zu uns kam, sagte er: Ich habe drei Wochen, sehen Sie zu, dass das hier vorwärtsgeht, ich muss gesund werden.
ZEIT:
Was haben Sie gemacht?
Grabhorn:
Das genaue Gegenteil: psychotherapeutische Einzelgespräche, Yoga, Entspannung, Gruppentherapie, Malen, Schwimmen, Spazierengehen. Nach einer Woche merkte er erst wieder, wer er war und was er braucht. Er stand unter extremem Leistungsdruck, weil er einen Vater hatte, der Alkoholiker war und den er als Kind im Auftrag der Mutter immer aus der Kneipe holen musste. Im Dorf wussten alle Bescheid, alle machten sich lustig, ihm war es absolut peinlich, wenn der Vater wieder mal betrunken war. Jetzt hatte er das Gefühl: Ich muss alles am Laufen halten, aber ich schaffe das nicht mehr – ich versage genau wie mein Vater, alle werden über mich lachen. Ein klassischer Fall.
ZEIT:
Sind das Eppendorfer Probleme?
Grabhorn:
Natürlich gibt es auch milieuspezifische Erkrankungen. Aber generell sind die Probleme die gleichen, sie lassen sich von Milieu zu Milieu nur unterschiedlich gut verbergen. Ob ein Mensch mit Alkoholproblem nun guten Cognac oder billigen Whisky trinkt, spielt für die Sucht keine Rolle.
ZEIT:
Das heißt, in keinem Hamburger Viertel herrscht heile Welt?
Grabhorn:
Im Gegenteil. Ich finde es immer wieder schockierend, hinter die Fassade gutbürgerlicher Familien zu schauen und zu sehen, wie viel Leid es dort gibt.
ZEIT:
Hamburg ist eben eine protestantisch geprägte Stadt – und eine, in der eine solide Fassade viel zählt.
Grabhorn:
Ja, natürlich. Die Angst ist groß, als Schwächling und Verlierer zu gelten. Die Hanseaten sind vielleicht noch ein bisschen strikter darin, sich nicht in die Karten gucken zu lassen.
ZEIT:
Depressionen haben seit 2010 um 11,4 Prozent zugenommen, sagt die Barmer. Könnte der Zuwachs auch daran liegen, dass Ärztinnen und Ärzte dahingehend sensibler geworden sind?
Grabhorn:
Das erklärt nicht den kompletten Anstieg, aber der Faktor ist sicher nicht zu unterschätzen. Bis vor ein paar Jahrzehnten haben Hausärzte kaum über psychische Erkrankungen nachgedacht, heute wird die Diagnose manchmal auch als schneller Grund für eine Krankschreibung benutzt. Ich glaube aber, im Kern liegt der Anstieg der Zahlen tatsächlich daran, dass es mehr Fälle gibt.
ZEIT:
Der Ausbruch der Corona-Pandemie führte laut WHO zu einem globalen Anstieg von Depressionen und Angststörungen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, inzwischen herrscht Krieg in der Ukraine, Deutschland droht eineherbe Wirtschaftskrise, die Energiepreise steigen. Alles auch nicht gut für die Psyche, oder?
Grabhorn:
Man muss die einzelnen Krisen differenziert sehen. In der Corona-Hochphase hatten wir deutlich mehr Patienten als sonst – meist Menschen, die sich ihre psychische Stabilität aus der Aktivität gezogen hatten. Nun waren sie auf sich zurückgeworfen und hatten mit den Problemen zu tun, denen sie sonst ausweichen konnten. Dazu kamen die wirtschaftlichen Ängste, viele Selbstständige hatten Sorge um ihre Existenz. Mit solchen Fällen hatten wir damals verstärkt zu tun.
ZEIT:
Und heute?
Grabhorn:
Ganz generell gesagt: Die Menschen haben Angst um das, was sie sich erarbeitet haben, und sie empfinden Unsicherheit, was uns bevorstehen könnte.
ZEIT:
Gilt das für alle?
Grabhorn:
Das Thema betrifft einerseits ängstliche Menschen, die von Haus aus weniger krisenfest sind, weil sie vielleicht schon früh im Leben seelische Verletzungen und Verunsicherung erfahren haben – Dinge, die sie im Lauf ihrer Entwicklung kompensieren, gern auch über Leistung. Wenn dann eine Bedrohung auftaucht, kommen alte Ängste und Unsicherheiten noch mal mehr zum Tragen. Andererseits gibt es in Hamburg viele Menschen, die extrem viel geleistet haben und jetzt in die Depression rutschen, weil sie an die Grenzen ihrer Kraft kommen, ohne das erhoffte Glück gefunden zu haben. Auch jemand, der viel Geld auf dem Konto hat, hat ja noch Wünsche an das Leben. Der Status kann nicht alles kompensieren.
ZEIT:
Neun Monate dauert es im Schnitt, bis ein Kassenpatient in Hamburg einen Therapieplatz findet – außer er bezahlt selbst, wie bei Ihnen. Finden Sie das gerecht?
Grabhorn:
Ich bin ja ein sozialer Mensch, sonst hätte ich diesen Beruf nicht. Ich bin natürlich der Meinung, dass alle Menschen eine gleichartige Versorgung kriegen müssen. Der Mangel an Therapieplätzen trifft Privatpatienten allerdings ähnlich. Unsere Ambulanz ist voll, viele unserer Patienten sind deshalb sehr verzweifelt.
ZEIT:
Jetzt, in Zeiten der vielen Krisen noch mehr?
Grabhorn:
Ganz klar ja. Wir haben mehr Depressive, mehr Angst-Patienten, und die Trauma-Patienten verlieren ihre Stabilität, die sie sich mühsam erarbeitet haben.
ZEIT:
Spielt bei allen die Sorge um den Verlust von Wohlstand und Status eine Rolle?
Grabhorn:
Ich habe nicht einen einzigen Patienten, bei dem das kein Thema wäre.
ZEIT:
Ab welchem Punkt wird aus einer Sorge, die ja durchaus plausibel sein kann, ein psychisches Problem?
Grabhorn:
Dann, wenn man den Eindruck hat, selbst nichts mehr tun zu können, um sich selbst zu retten. Darauf reagieren die Patienten mit Angst, Wut oder Lethargie. Wir müssen dann helfen, ein gewisses Maß an Realitätssinn und Entspanntheit herzustellen.
ZEIT:
Um ein möglichst konstruktives Ende zu finden – gibt es etwas, was sich gegen die Ängste und die Zermürbtheit tun lässt?
Grabhorn:
Ein freundlicher, wohlwollender Umgang würde schon helfen.
ZEIT:
Tatsächlich? Das reicht?
Grabhorn:
Mit Freundlichkeit allein wird sich keine der Krisen lösen lassen. Aber: Wenn man in einem gut funktionierenden System lebt, in einer intakten Familie oder einem engen Freundeskreis, dann hat dieses System eine enorme Tragfähigkeit für den Einzelnen. Es wird immer Leute geben, die das trotzdem nicht aushalten. Aber wenn man einander Halt und Vertrauen gäbe, anstatt sich gegenseitig zu beschimpfen, dann wäre das ganz sicher hilfreich.
Das Gespräch führte Florian Zinnecker
Erstveröffentlichung des Interviews war am 02.11.2022 auf zeit.de